R. Dauser u.a. (Hrsg.): Wissen im Netz

Cover
Titel
Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts.


Herausgeber
Sanuser, Regina; Stefan; Kempe, Michael; Mauelshagen, Franz; Stuber, Martin
Reihe
Colloquia Augustana 24
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Simona Boscani Leoni

Der Sammelband stellt die Beiträge der im September 2004 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg durchgeführten Tagung «Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts» vor. Er setzt sich mit drei sehr aktuellen Forschungsrichtungen auseinander, die in der Einleitung der Herausgeber kurz vorgestellt werden. Erstens mit der Bestimmung der Begriffe «Netz» und «Netzwerk», deren Anwendungsmöglichkeiten in den Geisteswissenschaften sowie deren Potenzial zur Erfassung komplexer Interaktionzusammenhänge in der Korrespondenz forschung. Als zweiten Punkt versucht die Herausgebergruppe, im Einklang mit den neuen Tendenzen der Wissenschaftsgeschichte ein neues Bild der Erforschung der Naturwissenschaften (einschliesslich der Botanik) zu schaffen, indem sie die Entwicklung der verschiedenen Disziplinen weniger als eine Sammlung von Beiträgen einzelner Wissenschaftler denn als eine kollektive Arbeit sieht, die sich stark auf die briefliche Kommunikation stützt. Drittens wird eine verbesserte Visualisierung der Korrespondenznetzwerke präsentiert, die auf der Entwicklung relationaler Korrespondenzdatenbanken basiert, welche es gleichzeitig ermöglichen, die qualitative und die quantitative Ergiebigkeit des Netzwerk-Ansatzes vorzustellen. Die Korrespondenz als Austauschmittel von Informationen und Objekten (im Fall der Botanik z.B. Pflanzen, Samen, Zwiebeln) ist ein treibender Faktor im Entwicklungsprozess der Wissenschaften vom 17. zum 18. Jahrhundert.

Das Werk ist in drei Teile gegliedert: Ein einleitender erster Teil gibt «Wissenschaftshistorische Kontexte: Gelehrtenrepublik und Botanik im 18. Jahrhundert». Im zweiten Teil konkretisieren sechs «Fallstudien» die allgemeinen einleitenden Überlegungen. Der letzte Teil («Netzwerke in der Analyse») setzt sich mit der Entstehung des Netzbegriffes im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften kritisch auseinander, sowie mit dem Problem der visuellen Darstellung von Korrespondenz- und Forscher-Netzen.

Die englischen Aufsätze von Hans Bots und Emma C. Spary bilden einen zusätzlichen einleitenden Rahmen des Buchs. Bots konzentriert sich auf die Rolle der Korrespondenz als zentrales Medium des Austauschs unter Gelehrten. Am Beispiel der Botanik wird deutlich hervorgehoben, wie der Austausch von Informationen und Objekten die notwendigen Grundlagen zur Entwicklung der empirischen Naturwissenschaften legt. Die Bedeutung der interaktiven Prozesse in der Naturforschung und die Austauschmöglichkeiten zwischen Gelehrten und staatlichen Institutionen werden im Beitrag von Emma C. Spary betont. Die «Flore Portugaise» (1809–1840) von Johann Centurius von Hoffmannsegg und Heinrich Friedrich Link stehen im Mittelpunkt von Fernando Claras Artikel. Sein Beitrag fokussiert nicht nur auf die Entstehung des Werks, sondern auch auf die Rolle der Korrespondenz als strategisches Mittel zur Integration der Forscher in wissenschaftlichen Netzwerken, die als Garantie sowohl für die Unterstützung der Forschungsexpeditionen wie auch für die Rezeption der Werke von portugiesischen Botanikern gelten. Im Zentrum von Staffan Müller-Willes Analyse steht das «Sammeln» im weiten Zusammenhang des Austauschs von Objekten und Informationen in Korrespondenznetzwerken, was als Nachweis der breiten sozialen Vernetzung des Sammlers betrachtet wird. Die letzten drei Beiträge des ersten Teils beschäftigen sich mit der Vermittlung der systematischen Botanik Linnés in Schwedisch-Pommern (Adreas Önnefors), mit dem Problem der wissenschaftlichen Pflanzendarstellung anhand der Korrespondenz zwischen Naturwissenschaftlern aber auch zwischen diesen und Handwerkern (Kärin Nickelsen), und mit der unterschiedlichen Bedeutung des Korrespondenznetzes nach der Funktion der Pflanzen anhand der prototypischen Netze Albrecht von Hallers («Gelehrter»), Jean-Jacques Rousseaus («Liebhaber») und Joseph Banks’ («Ökonom», Hubert Steinke). Der zweite Teil des Bandes umfasst sechs Fallstudien, in denen die Praktiken des Pflanzentransfers analysiert werden. Die Rolle der Korrespondenz in der Arbeitspraxis des Arztes Lorenz Heister und die Struktur der verschiedenen Netze und Subnetze mit ihren Mittlerfiguren werden am Beispiel der Braunschweig- zBlume von Marion Maria Ruisinger untersucht. Durch die Korrespondenz von Jakob Christoph Trew, einem Schüler von Heister, kann Thomas Schnalke die Interaktion zwischen Sammeln, Netzbildung und Netzeinbindung hervorheben. Den verschiedenen Dimensionen des Pflanzentauschs und der Organisation des Netzes in der botanischen Korrespondenz von Albrecht von Haller, sowie den unterschiedlichen botanischen Korrespondentennetzen vom Direktor des Botanischen Gartens in Mannheim, Friedrich Casimir Medicus, widmen sich die Beiträge von Stefan Hächler und Ilona Knoll. Anhand der Ansätze der Kulturtransferforschung untersucht Martin Stuber im Netz der Berner Oekonomischen Gesellschaft den dreifachen Prozess der «Selektion», der «Vermittlung» und der «Rezeption» von fremdländischen oder von neuen Sorten einheimischer Nutzpflanzen. Die letzte Fallstudie beschäftigt sich mit den Netz-Aktivitäten des Regensburger Apothekers David Heinrich Hoppe, sowie mit seiner Rolle als Vermittler botanischen Wissens über das Grossglocknergebiet.

Im dritten Teil widmen sich fünf Aufsätze methodischen Problemen der Netzwerkanalyse. Die Rolle des «Netzwerk»-Begriffes als Leitkategorie der Kulturund Sozialwissenschaften und besonders seine Rolle in der Kommunikationsforschung werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln zur Diskussion gestellt (Wolfgang E. J. Weber). Michael Kempe setzt sich mit neuen qualitativen und quantitativen Netzwerktheorien auseinander und zeigt, wie wichtig auch die «Löcher zwischen den Maschen» für eine Gesamtanalyse des Korrepondenznetzes sind. In seinem Beitrag befragt Mark Häberlein die Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse von Wolfgang Reinhard und plädiert für eine präzise Verwendung der Terminologie und der Methoden. Den Briefaustausch zwischen Hans Fugger und dem bayerischen Herzogshof und die Erschliessung der grundlegenden Interaktionsstruktur dieses «Ego-Netzes» sind Gegenstand der Forschungen von Regina Dauser. Das Buch schliesst mit einem gemeinsamen Beitrag von Martin Stuber, Stefan Hächler, Lothar Krempel und Marion Maria Ruisinger. Der Artikel zeigt die Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaften durch die Möglichkeit der visuellen Darstellungen von Daten aus den Korrespondenz- und Forscher-Netzen. Das Ziel der leicht lesbaren Visualisierung, die zugleich quantitative und soziologische Aspekte in Betracht zieht, ist sicher eine der wichtigsten Problemfelder der Korrespondenzforschung der letzten Jahre.

Mit seinen vielfältigen Perspektiven schliesst das Werk ohne Zweifel eine wichtige Lücke im Bereich der historiografischen Reflexion sowohl über die Ergiebigkeit der Netz- und Netzwerke-Theorien und ihrer Anwendungen als auch über die Rolle der Korrespondenz als sozialer Faktor in der Entwicklung der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften. Sehr nützlich ist auch die Auseinandersetzung mit der Visualisierung der Daten. So werden die Grundsteine einer vergleichenden Korrespondenzforschung gelegt, die die Rolle der Verflechtung (des Netzes) als Hauptelement der Wissensproduktion und des Wissenstransfers sowie als Vergemeinschaftung über Grenzen und Konfessionen hinweg, umfassend in den Blick nimmt.

Gerade weil hier eine breite Diskussion über all diese zentralen Aspekte stattfindet, wäre es nützlich gewesen, den Band auch mit englischen Zusammenfassungen zu versehen, wodurch die Ausweitung der Diskussion über den deutschsprachigen Raum erleichtert worden wäre. Etwas grössere Aufmerksamkeit auf die in anderen Ländern laufenden Korrespondenzprojekte hätte dem Buch ebenfalls vermehrt zu dieser Richtung verholfen.

Zitierweise:
Simona Boscani Leoni: Rezension zu: Regina Dauser, Stefan Hächler, Michael Kempe, Franz Mauelshagen, Martin Stuber (Hg.): Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts. Berlin, Akademie Verlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 504-506

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 504-506

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